IN DIE TIEFE – Das Leben mit Erinnerungen füttern
Manchmal erahnen wir die Bedeutung, die ein banaler Augenblick einmal haben wird.
Es geht im Leben um den Überraschungseffekt, der das Planbare außer Kraft setzt. Mit allen hinreißenden und herzzerreißenden Kapiteln, an die wir uns später erinnern.
Natürlich hätte auch AI dieses Bild irgendwie hinbekommen.
Aber wäre es dasselbe? Ein Foto, an das sich keine Emotionen knüpfen.
Die Kommode auf dem Bild steht in meinem Wohnzimmer. Ich kann sie angreifen und daran vorbeigehen. Mit dem Finger den Staub abwischen, der sich nach viel zu kurzer Zeit darauf sammelt.
Jedes Erinnerungsstück erzählt eine Geschichte.
Und jede Geschichte erzeugt ein Gefühl.
Es ist doch so, oder nicht? Oder haben wir es bloß vergessen?
Da ist das selbst gemalte Bild aus Acryl und Wachskreide.
Eigentlich nichts Besonderes und dann wieder schon. Meine Vorlage waren die Reflexionen des Wassers in einem Pool. Ich habe das Foto an einem wunderbaren Ort zwischen Verona und dem Gardasee gemacht.
Zwischen zwei Gläsern und einer Flasche Rosé, die er barfuß aus der Gratuity-Bar geholt hatte. Ich rieche das Chlor und höre das wilde Plätschern des überlaufenden Wassers, nachdem er hineingesprungen war.
Mir ist, als passierte es jetzt gerade.
Zum tausendsten Mal.
Da ist die handgetöpferte Schale, gefüllt mit Sand von der Atlantikküste.
Eine Freundin hat mir von der kleinen Töpferei in Lissabon erzählt, wo sie diese Schale in meiner Lieblingsfarbe für mich gekauft hat. In der Schale liegen kleine Muscheln, auf einen Algenstrang gefädelt.
Eine Retreat-Teilnehmerin hatte das Bändchen beim Beach-Yoga zufällig im Sand gefunden und mir geschenkt.
Es gibt keine Zufälle.
Darunter die uralten Bücher, die genauso riechen, wie sie aussehen. Ich liebe das.
Die göttliche Komödie von Dante.
Milano 1867.
Wie das Buch wohl auf den Flohmarkt nach Lissabon gekommen ist, wo ich es um zwei Euro gekauft habe?
Die große Muschel dahinter.
Wunderschön mit ihren Furchen und Löchern. Ich weiß noch genau, wo und mit wem ich sie gefunden habe. Ich sehe die morbide Vergänglichkeit genau vor mir, die dieser Ort jedes Mal für mich ausstrahlt. Ein Zufluchtsort, an dem sich die Menschen heimlich einfanden, obwohl der Lockdown paradoxerweise die Strände zum Sperrgebiet erklärte.
Das weite Meer, das trotz allem unaufhörlich seine Wellen schlägt.
Die Möwen, die sich zu Tode langweilen.
Die Hochhäuser, die im Weg herumstehen.
Das Glas mit den Federn enthält tonnenweise Erinnerungen.
Nicht alle davon federleicht, aber jede einzelne von Gehalt und ungeheurer Wichtigkeit.
Die Lithografien, die mehr zu erzählen haben als ich von ihnen weiß.
Die eine mit den Muscheln…aus Amsterdam. Ein ehemaliger Lehrer hatte seine Sammlung aufgelöst. Einfach so, wie er sagte. Doch ich spürte, dass es ihm schwer fiel, sich von diesem Stück Geschichte zu trennen.
Die andere mit dem Oktopus…gekauft im Mauerpark in Berlin, als ich noch nicht mal wusste, dass genau dieses Tier Jahre später mal mein Krafttier werden sollte. Und jedes Mal, wenn ich den Schmetterling an der Schlafzimmerwand meiner Freundin sehe, erinnere ich mich an unsere gemeinsame Reise. Nur eine von vielen.
Ich blicke zur Kommode hinüber. Die abgesehen von den Konstanten auf dem Bild im Moment etwas anders aussieht.
Da steht die schwere Glasschale aus Murano, die meiner Urgroßmutter gehörte.
Man könnte, wenn man wollte, jemanden wie bei Columbo damit erschlagen. Ich weiß wirklich nicht, warum mir diese Assoziation ständig in den Sinn kommt.
Darauf liegt die größte Feder, die ich jemals gesehen und besessen habe.
Als hinge noch der ganze majestätische Adler dran. Das Geschenk von der Freundin meiner Mutter. Es war ihr Dank für eine indische Decke voller Pailletten, die ihr mehr Freude macht als mir.
Dahinter das chinesische Zeichen des Glücks.
Bei einem Kalligrafie-Workshop habe ich es selbst mit Tusche gemalt. Das Reisfeld, der Mund und darüber der einzelne Strich. Weil ein mit Reis gefüllter Mund glücklich macht – und ein einziges Glück völlig reicht.
Das Weise muss nicht kompliziert sein.
Die Muschel, mit den robusten Rillen. So rund wie ein Ball, als wollte sie gleich wegrollen.
Beide Teile noch miteinander verbunden. Das Symbol für eine Erinnerung: Er wollte mir immer eine Schatulle aus zwei Muschelhälften bauen, um zusammenzubringen, was zusammengehört. Daraus ist nichts mehr geworden, aber immer, wenn ich daran denke, dass er es versuchen wollte, mit seinen großen Händen eher fürs Grobe gemacht, bringt es mich zum Lächeln.
Dann dieses Blatt Papier. Mit dem Buchtitel, den noch keiner kennt.
Für mich steht er schon ganz real auf einem Buch geschrieben. Er hat natürlich mit dem Meer zu tun. Darunter mein Name, weil nur ich diese Geschichte aufschreiben kann. Dahinter das zerfledderte Taschenbuch – „Eat Pray Love“ von Elizabeth Gilbert als Manifestation für mein Vorhaben. Ich habe es 2008 auf meiner Weltreise gelesen und mit jedem Kapitel selbst die Kontinente gewechselt. Ich wäre verrückt geworden, hätte ich es festgezurrt an ein Zuhause lesen sollen.
Ich hatte noch keine Ahnung, was danach alles kommen würde. Vielleicht war es auch besser so.
Denn darum geht’s ja im Leben, nicht wahr?
Der Überraschungseffekt. Mit allen hinreißenden und herzzerreißenden Kapiteln.
Was würde es mir also bringen, ein fantastisches Foto, geschaffen von der künstlichen Intelligenz, irgendwo als Banner zu benutzen? Wie leer, wie schal, wie bedeutungslos wäre das?
Das Leben wäre doch absolut nichts wert.
Ohne seine Erinnerungen.
Ohne sein Gefühl.
Und ohne seine Träume.
xo, Jeanette