Das Kind in dir muss Heimat finden. Muss es das wirklich? Vielleicht möchte mein inneres Kind lieber verreisen. Und zusammen mit der kleinen Schwester alte Erinnerungen auffrischen. In einer Stadt, die sich seit jeher heimelig anfühlt: Amsterdam
Das Kind in dir muss Heimat finden. Das Buch von Stefanie Stahl steckt irgendwo zwischen Werken über östliche Heillehren und Persönlichkeitsentwicklung in meinem Regal.
Mein inneres Kind war auf meiner letzten Reise sehr präsent. Doch muss es wirklich Heimat finden? Was ist Heimat überhaupt?
Ein Ort, an dem man sich zu Hause fühlt?
Ein Ort, an den sich (gute) Erinnerungen knüpfen?
Für mich ist es bestimmt nicht der Ort, an dem ich geboren wurde und auch nicht der Ort, an dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe.
Aber möchte ich ausgerechnet der Stadt Amsterdam den Heimat-Stempel aufdrücken?
Auf den ersten Blick hat diese Stadt keine große Wichtigkeit für mich. Ich könnte ständig nach Italien fahren, aber manchmal vergehen Jahre, bis es mich wieder in den Norden zieht.
‚Lass‘ uns doch einfach nach Amsterdam fahren!‘, sagte meine Schwester vor einigen Monaten, als wir endlich einen Termin für unsere jährliche Reise, aber noch keine Destination gefunden hatten.
Wir waren schon in Triest, Rom, Paris, Palma, Valetta und Alicante. Alicante hat unsere nicht vorhandenen Erwartungen restlos übertroffen. Rom – da sind wir uns beide einig – ist eine Stadt, in der wir garantiert keine Heimat finden.
Eine Destination muss am unteren Ende der Liste stehen. Für uns ist es Rom. Das Warum führt jetzt zu weit.
‚Ok, dann nehmen wir eben Amsterdam!‘ Die Entscheidung fühlte sich so an, als würden wir übers Wochenende mal wieder nach Hause fahren.
Alkmaar, Haarlem, Nordwijk, Zaandam, Gouda, Purmerend…
Gefühlt waren wir als Kinder in jedem holländischen Städtchen zu Hause. Wir verbrachten Wochen und oft auch einen ganzen Monat an der Nordsee. Wir hatten ein ganzes Haus zur Verfügung, weil die Familie, die dort wohnte, zur selben Zeit in unserem Haus Urlaub machte. Ein geniales Konzept. Und deshalb vielleicht auch das vertraute Heimatgefühl. Die Nachbarskinder brachten uns bei, auf Holländisch bis 100 zu zählen. Es gab keine Vorhänge in den Fenstern und wir ernährten uns von riesigen Toastbroten mit goldgelbem Käse. Ich feierte meinen Geburtstag mit den Kindern im Garten und in einem Schwimmteich verlor ich einen grasgrünen Plastikschuh, der vermutlich bis heute nicht verrottet ist.
An manchen Tagen beschlossen unsere Eltern mit uns ans Meer zu fahren. Meist fuhren wir nach Egmond aan Zee. Es waren heiße, lange Sommertage. Wir aßen abwechselnd Poffertjes und Riesenportionen Pommes. Auf einem Markt habe ich mir einmal einen neonfarbenen Stretch-Badeanzug gekauft, in dem ich noch brauner aussah als ich ohnehin schon war. Ich habe mit einem Jungen namens Odin Muscheln gesammelt, der mich immer an den treudoofen Odie aus Garfield erinnerte. Einmal ist der lauwarme Shit einer Möwe auf meiner Schulter gelandet und meine Schwester ist minutenlang wie ein Rumpelstilzchen lachend um mich herumgehüpft.
Erinnerungen für die Ewigkeit, so unverwüstlich wie der verlorene Plastikschuh.
Im Zug nach Amsterdam haben wir uns gegenseitig jede einzelne Geschichte erzählt. Als wäre die andere gar nicht dabei gewesen und hörte sie zum ersten Mal.
Der Bahnhof in Amsterdam wirkt vertraut. Als hätte sich in den letzten 35 Jahren nichts verändert. Wir machen ein Selfie und schicken es an unsere Eltern: Wir sind wieder da! In der Stadt, in der ihr uns damals einfach ausgesetzt habt!
Es ist eine der Kindheitserinnerungen, die sich mit einem Augenzwinkern fest in unseren Köpfen hält, auch wenn es unsere Eltern bestreiten. Vielleicht war das Amsterdam der Achtziger ja ganz beschaulich. Samt seinen Coffee-Shops und den Prostituierten, die in den Schaufenstern standen.
Ich muss 12 oder 13 gewesen sein, meine Schwester 6 oder 7. Unsere Eltern sagen, wir wären älter gewesen. Wäre ich ein Elternteil, würde ich das sicherheitshalber auch behaupten.
Wir trennten uns in der Fußgängerzone, nicht weit vom Bahnhof. Mein Vater gab eine Uhrzeit und einen Treffpunkt bekannt. Meist war das der Platz mit den Pantomime-Künstlern, zwischen De Bijenkorf und Madame Tussauds. Auf keinen Fall durften wir bis zu den Grachten gehen. Immerhin. Man hat uns also nicht völlig dem Laissez-faire überlassen.
Was tun Eltern drei Stunden lang ohne ihre Kinder? Gute Frage. Unser Vater will sich heute an nichts mehr erinnern. Unsere Mutter war shoppen, da ist sogar unser Vater ein verlässlicher Zeuge. Dasselbe wollte ich auch, also schleppte ich meine kleine Schwester in die nächstbesten Mode-Shops, ob sie das wollte oder nicht.
Wir gingen nie verloren, obwohl es nicht mal Handys gab. Allerdings hat mein inneres Kind wohl ein klitzekleines Verantwortungsproblem davongetragen. Es fühlt sich bis heute verantwortlich für alles und jeden. Aber man löst die Dinge bekanntlich auf, indem man ihnen ins Gesicht schaut. Meine weise Schwester will es besser machen und trägt der älteren Tochter deshalb niemals auf, auf die jüngere aufzupassen.
Jeder Städtetrip nach Amsterdam ist mit den bunten Erinnerungen getränkt.
Vielleicht haben unsere Köpfe die Ereignisse mit mehr Drama als nötig abgespeichert. Weil eben alles viel größer wirkt, wenn man selbst noch klein ist.
Und falls Amsterdam nicht so etwas wie Heimat ist, dann ist es die Stadt, die uns als Schwestern für immer zusammenschweißt. Und bei jedem Besuch schmücken wir die alten Erinnerungen mit lustigen neuen aus.
Gewohnt haben wir dieses Mal in einer kleinen, feinen Villa am Westerpark – etwas außerhalb der Stadt, aber mitten im Grünen. Mehr Restaurant als Hotel, was genau das Richtige sein kann, will man dem Trubel der Stadt zwischendurch entkommen. Außerdem werden zu fast jeder Tages- und Abendzeit gute Weine zu Pasta-Gerichten im sommerlichen Garten serviert, während zwischen Bäumen eine Windmühle hervorblitzt. Kitschiger geht’s eigentlich nicht.
Auch für unseren Ausflug an die Nordsee war die Lage unserer Villa perfekt. Vom Bahnhof Sloterdijk ging’s zwar nicht nach Egmond, doch ins nähergelegene Zandvoort. Die Stimmung ist tatsächlich mit dem portugiesischen Costa da Caparica vergleichbar (Tribe-Notes 04/24) – hässliche Architektur und hervorragende Beachvibes!
Die Nordsee hatten wir allerdings in unserer kindlichen Erinnerung etwas romantisiert. Kein Wunder, hatten wir damals doch weder Sardinien, noch die Malediven gekannt
Als die erste Qualle auftauchte, liefen wir lachend und quietschend aus dem Wasser. Als wäre ich noch 12 oder 13 und meine Schwester 6 oder 7. Die Enttäuschung über das trübe Gewässer mussten wir in der nächstbesten Beach-Bar mit einer Flasche Rosé ausgleichen.
Wie gut, wenn man schon groß ist und alles machen darf, worauf man Lust hat.
Den Lauf der Sonne zu beobachten, bis sie über dem Meer untergeht, gehört zu meinen persönlichen Glücklichmachern. Man könnte meinen, sie hat an der Nordsee gar nicht vor, jemals unterzugehen. Und so haben wir die Zeit vergessen, was nicht weiter schlimm war, weil wir ja keinen Treffpunkt bei Madame Tussauds einhalten mussten.
An allen anderen Tagen waren unsere inneren Kinder damit beschäftigt, die imaginäre Checkliste abzuhaken:
An allen Grachten entlang spazieren & uns dabei absichtlich verlaufen. Einfach weil wir es können!
Überprüfen, ob De Bijenkorf und Madame Tussauds noch stehen. Ja, tun sie.
Einen Shoppingbummel durch die 9 Straatjes machen – aus Rebellion, weil uns damals niemand gesagt hat, dass es außerhalb der Fußgängerzone noch viel hübschere Gegenden gibt.
Uns eine indonesische Reistafel teilen – weil wir das bei jedem Amsterdam-Trip tun.
Poffertjes mit tonnenweise Zucker und Butter essen.
Was wir sonst noch getan haben:
Ein spontanes Picknick an der Prinsengracht machen – mit Ziegenkäse-Sandwiches und frisch gepresstem Rote Beete-Saft.
Die Menschen mit Fahrradhelmen zählen (=1, vermutlich ein Tourist)
Tief einatmen, wenn irgendwo der Geruch von Gras um die Ecke weht und dabei wie übermütige Kinder kichern, die vorsätzlich etwas Verbotenes tun.
Die Menschen auf ihren kleinen & großen Booten beobachten, wie sie sonntags vergnügt in die eine Richtung ausströmen und abends nicht weniger vergnügt in entgegengesetzter Richtung wieder zurückkehren.
Die Menschen vor ihren schmalen Hauseingängen beobachten, wie sie sich auf Treppen, Klappstühlen & Bänken einfinden, um miteinander zu plaudern und bei einem Glas Wein den Tag ausklingen lassen.
Affogato trinken und Zeuginnen werden, wie eine Amerikanerin einer Holländerin versehentlich vors Fahrrad läuft und sich beide minutenlang beim Gegenüber ent-schuldigen anstatt sich gegenseitig zu be-schuldigen.
Mit Sanctum-Grüner Luke im Vondelpark eine fantastische Mischung aus HIIT, Kundalini und tiefenwirksamen Wahnsinn zu lauten Beats über uns ergehen lassen.
Im MOCO Museum über die spannende Ausstellung von Sänger Robbie Williams stolpern, der sich mit plakativer Kunst von seinen Dämonen befreit hat.
Würde uns in dieser Stadt jemals langweilig werden? Vermutlich nicht. Denn selbst wenn wir alles gesehen hätten, könnten wir uns immer noch an dem Miteinander, an dem Durcheinander und an dem Gegensätzlichen erfreuen, das hier in völliger Eintracht nebeneinander existieren darf.
Generationen, Geschlechter, Gesinnungen.
Eine Heimat für alle, nicht nur für innere Kinder.
xo Jeanette
IN DIE FERNE
MEINE LIEBLINGSADRESSEN in Amsterdam
WesterVilla – Eine entzückende Alternative zu teuren, beengten Stadthotels. Direkt am Westerpark residiert man in unaufgeregter Atmosphäre abseits des Trubels. Das italienische Restaurant im Erdgeschoß ist ein idealer Ort für Drinks & Pasta zum Lunch oder Dinner.
MOCO Museum – Beheimatet in einer historische Villa am Museumsplein, ist das MOCO mit Kunstwerken von Damien Hirst bis Keith Haring auf jeden Fall einen Besuch wert.
BUSSIA Panificio – Affogato bestellen, zurücklehnen & das bunte Treiben auf der Straße beobachten.
MINT Minimall – Wer in dem kleinen Laden in den 9 Straatjes kein Mitbringsel findet, dem ist leider nicht zu helfen.
CORA Broodjes – Unsere spontane Idee: Mit einem köstlich belegten Sandwich & einem frisch gepressten Gemüsesaft an der Prinsengracht ein Picknick machen.
SAMPURNA Restaurant – Das Lokal ist für seine indonesischen Reistafeln bekannt, ein festliches Gericht mit unzähligen Schalen und Schüsseln, dessen Geschichte in die Kolonialzeit zurückreicht.
WE ARE SANCTUM – Ich war schon lange neugierig auf die Mindful Movement Sessions, die ich vor einiger Zeit auf Instagram entdeckt hatte. Die Gelegenheit, im Vondelpark mit Initiator Luuk Melisse mit dabei zu sein, konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen.
IN DIE TIEFE
YOGA MIT JEANETTE | Termine im August
THE SUMMER JOURNEY – Egal, ob du gerade auf Reisen bist oder zu Hause: Die Yogamatte kannst du überall ausrollen. Mit der Summer-Journey nehme ich dich mit an meine Lieblingsplätze in Portugal, Italien, Griechenland & Österreich. Die Route, den Starttermin & die Dauer deiner Yogareise bestimmst du selbst. Im August + September geöffnet.
YANG Body YIN Mind – Bei diesem Format verknüpfen wir Yoga, Breathwork & Somatic Movement mit den Prinzipien von Yin & Yang. Mit einer emotionsgeladenen Playlist bringen kommt unser Qi in den Fluss. Für ein lebendig-leichtes Lebensgefühl! Der nächste Termin: SA, 10. August im Inama-Institut in SeehamCOSTA DA CAPARICA – Wie geht’s von Lissabon zum nächsten Surfer-Beach? Mit Fähre und Uber nach Caparica! Erwarte keine schöne Architektur oder fancy Boutiquen & Restaurants, stattdessen vibrierende Surfer-Vibes, perfekte Wellen & endlose Strände.
Ich reise in die Ferne & in die Tiefe. Aber nicht nur. Ich bin auch Texterin, Reisejournalistin und Yogalehrerin. Auf meiner Website kannst du in meinen Kosmos aus Feinsinn, Weitblick & Tiefgang tauchen.