Warum ich? Warum ausgerechnet jetzt? Sätze, die das Leben nicht versteht. „Sich nur die schönen Sachen herauspicken, das kann ja jeder", zischte es und servierte mir die All-inclusive-Experience.
Zuerst die Vorgeschichte:
Es war bei einem Retreat, bei dem ich im Februar assistierte. Die Transformation, durch die wir die TeilnehmerInnen begleiteten, betraf auch uns selbst. Am Ende saßen wir im Kreis und sagten uns nette Dinge. Damit wir es irgendwann besser glauben können, nach innen schöne und nach außen gute Menschen zu sein. Reihum sagten wir den Namen der jeweiligen Person, gefolgt von „When I look at you, I see…“. Als ich an der Reihe war, sagte eine ebenso liebreizende wie toughe Anwältin aus London über mich, dass ich so viel Anmut ausstrahle, dass man meinen könnte, ich würde den Boden gar nicht berühren. Es schien, als ob ich schweben würde. Als würde ich den Raum nicht einfach nur betreten, sondern erscheinen.
Ja, das hat sie gesagt. Und ich war geflasht. Gerührt. Berührt. Es war mir fast peinlich. Fast. Denn mein Inner Leo hat sich gleichzeitig den Goldstaub aus der Mähne geschüttelt.
Jetzt die eigentliche Geschichte:
Als ich im Oktober mit der tänzelnden Leichtigkeit eines Sandvogels zur Markthalle fuhr, erinnerte ich mich an das, was Naffi, die Londoner Anwältin, zu mir gesagt hatte. Ich parkte das Auto, das eigentlich viel zu groß war. Ein Clio hätte völlig gereicht, doch der georderte Captur stand bei der Anmietung schon erwartungsvoll auf dem Parkplatz. „Don’t worry, it’s like a Clio on High-heels“, scherzte João, der in einem grellorangen Poloshirt steckte. Ich weiß nicht mehr, wie der Typ wirklich hieß, aber Portugiesen heißen zu 70 % João, zu 25 % Rui und zu 5 % irgendwie anders.
Somit trug wenigstens das Auto High-heels, während ich in die Markthalle flip-floppte.
Natürlich ohne dieses flip-floppige Geräusch dabei zu machen, das TouristInnen machen, weil sie diese Dinger nur im Urlaub tragen. Sie tun das nicht aus Leidenschaft. Ich schon. Es ist mein Statement für den Endless Sommer. Und der ist erst vorbei, wenn mir die Zehen abfrieren.
Ich übte mit der geduldigen Marktverkäuferin 2-3 neue portugiesische Sätze ein und kaufte die betörendsten Mangos auf diesem Planeten.Nirgendwo sonst außer in Portugal wird man mehr von den Locals beim Versuch bestärkt, drei Worte dieser unhandlichen, aber liebenswerten Sprache aus den Tiefen des Rachens zu pressen. Viel CHCHRRR. Und ein SCH am Ende. Damit ist man meistens save.
Im Café vor der Markthalle bestellte ich einen Pingado, die portugiesische Version eines Espresso macchiato, und ließ mir nicht anmerken, dass ich mit dem deutschen Rentnerpaar etwas gemeinsam habe. Auch wenn es nur die Sprache war.
Als ich so dasaß, wohlig aufgeregt und im Einklang mit mir selbst, fühlte ich diese Anmut, so wie Naffi sie beschrieben hatte. Ein Gefühl von souveräner Leichtigkeit. Wie Schulanfang und Führerschein. Wie der erste Tag eines unvergesslichen Sommers. Und das, obwohl rein theoretisch schon Herbst war.
Ich zitierte in Gedanken mein Mantra, das ich mir eigentlich für tonnenschwere Zeiten zurechtgezimmert hatte, um mich jederzeit selbst aus jedem Tief holen zu können. Aber es passte ab der 2. Zeile auch für federleichte Zeiten:
Und das ist jetzt vorbei.
Ich bin vollkommen frei.
Ich erlaube mir, hemmungslos glücklich zu sein.
Ich bin bereit, mein bestes Leben zu leben.
Und mein bestes Leben war genau jetzt und hier. Ich hatte alles geplant. Ich würde nach meinem jährlichen Retreat an der Algarve, den Raum zu halten. Nicht für die 13 anderen wunderbaren Frauen, sondern für mich selbst.
Gleich würde ich zurück in mein Apartment fahren, das einem marokkanischen Riad glich. Niemand würde mich hier finden. Das perfekte Hideaway mit einem schattigen Patio und einer Dachterrasse, von der man über die typischen Flachdächer der Häuser des Fischerdorfes hinwegblickt. In der Outdoor-Dusche war ein Mosaik mit einem Oktopus. (Falls du schon länger zum Tribe gehörst, weißt du, was das bedeutet!) Morgen früh würde ich über kopfsteingepflasterte Gassen zum Bäcker schlendern, um dort wieder einen Pingado, einen frisch gepressten Orangensaft und ein Briochegebäck zwischen tratschenden Locals zu bestellen.
Ich würde bei jeder Gelegenheit “Bom dia” und “Obrigada” sagen und später mit dem Fährboot zur Insel übersetzen. Weil die Wellen des Atlantiks mich seit dem Vortag bestimmt schon vermisst haben.
Meinen Zufluchtsort würde ich niemandem verraten. Nicht mal dem Tribe. Nur auf explizite Nachfrage vielleicht.
Ich bezahlte den Kaffee und ging beziehungsweise “schwebte” noch ein Stück weiter um die Ecke der Markthalle zum Saftladen meines Vertrauens. João – denn ganz bestimmt heißt er so – presste mir das Beste aus Orangen, Papayas und Mangos heraus. Ich war im Himmel. Auch wenn genau an diesem Ort eine noch nicht vollkommen verheilte Wunde aufzuspringen drohte. Oder war es einfach nur eine schöne Erinnerung, die noch immer wehtat? Und vielleicht sollte ich ihr einfach die Erlaubnis dazu geben.
Und das ist jetzt vorbei.
Ich bin vollkommen frei.
Ich erlaube mir, hemmungslos glücklich…
Und so weiter. Passt irgendwie immer.
Ich schlürfte einen halben Liter voller Vitamine. Und hatte eine tiefe Einsicht:
Ein Schwebezustand ist niemals von Dauer.
Das müssen wir uns abschminken!
Nicht, weil uns das Leben einen Streich spielen will.
Sondern, weil das Leben genau das ist, was es nun mal ist.
Es will dir auf manchmal absurde Weise mitteilen, dass the Good, the Bad & the Ugly beste Freunde sind.
Und wir sind hier, um zu begreifen, dass wir nur mit Anmut über dem Boden schweben können, wenn wir uns mit vertrauensvoller Leidenschaft in jede daherkommende Welle werfen.
Das Leben funktioniert nicht, wenn wir dagegen ankämpfen, sondern nur, wenn wir mit den Höhen & Tiefen, den Chaos & Stürmen widerstandslos mitgehen.
Wenn wir lernen, uns mit der Welt und uns selbst anzufreunden. Immer. Und vor allem dann, wenn es fies wird.
Ein paar Tage vor dieser Einsicht lag mein persönliches Learning. Das Leben hatte sich noch während meines Yogaretreats eine besondere Showeinlage einfallen lassen: Wir kamen gerade von unserer Beach-Yogasession zurück und ich zündete dutzende Kerzen an, um den Tisch für das Dinner in Stimmung zu bringen. Da tanzte plötzlich ohne Vorwarnung meine einzige Krone aus der Zahnreihe. Hello Bad, hello Ugly!
Der Tag wäre sonst ja auch unerträglich schön gewesen.
Ich atmete. Denn wie ich nun etwas essen sollte, musste ich mir erst überlegen. Zwei Wochen voller wundervoller Pläne lagen vor mir. Nur für mich. Und jetzt ausgerechnet das. Muss das sein? Echt jetzt?
Ich begriff sehr schnell, dass das Leben mit „Warum ich?“ und „Warum jetzt?“ nichts anfangen kann. Ich könnte das genauso gut auf Portugiesisch fragen. Oder Chinesisch. Das Leben würde nur schulterzuckend vor mir stehen und genervt die Augen rollen.
Ich habe manchmal eine lange Leitung, doch diese Botschaft habe ich überraschend schnell verstanden.
„Ich muss mehr Zeit am Meer verbringen“, hatte ich – noch während des Retreats und noch bevor sich meine Krone von mir trennen wollte – geschluchzt, als Carina mit ihren Ellbogen ein Potpourri an Emotionen unter meinen Schulterblättern hervorlockte. Es roch nach Räucherstäbchen und Zitronen. Die Tränen liefen mir aus den Augen, aus der Nase und aus dem Mund. Es war mir völlig egal.
Schon seit Monaten überlegte ich, wie ich mehr Zeit an meiner Meer-Heimat verbringen könnte. Und wie sich der portugiesische Atlantik mit dem mediterranen Lebensgefühl Italiens und Griechenlands – und ja, auch mit meinem Kontostand – vereinen ließe. Das anmutige Herumschweben lässt mich leider manchmal die Bodenhaftung verlieren.
Also war die Zahnkrone jetzt meine Prüfung. Weil das A in Atlantik nicht nur für A wie Anmut, sondern auch für A wie Alltag steht.
„Sich die schönen Sachen herauspicken, das kann ja jeder. Hier kommt die All-inclusive-Experience für dich!“, zischte das Leben.
Ich habe die Prüfung bestanden. Irgendwo zwischen Retreat und Markthalle. Souverän und anmutig. Und das ging so:
„Tudo bem?“ fragte die junge Zahnärztin, die so hübsch wie Alexandria Ocasio-Cortez aussah und die ich zuerst für die Zahnhelferin gehalten hatte. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich Dr. Pedro (die verbleibenden 5 % aller portugiesischen Männer-Namen) erwartet hatte. Pedro war ein guter Freund meiner portugiesischen Freunde, die mein Anliegen netterweise schon mal angekündigt hatten.
„Mais ou menos“ murmelte ich und legte meine Tasche in der Ecke einer sehr hellen und modernen Praxis ab. Sofort begann die Zahnärztin einen lebhaften Monolog, aus dem ich schließen durfte, dass die 4 Silben aus meinem Mund so klangen als wäre ich der Sprache mächtig. Nach meinem holprigen „Não percebo“ wechselte die Ärztin zu perfektem Englisch. Vielleicht half mir die kleine Sprachbarriere sogar, mein kleines Drama weniger ernst zu nehmen.
Mein Verstand hatte zwar schon längst die Akte „Zahnarzt = Angst/Panik“ herausgesucht, doch ich überzeugte mich selbst, dass ich mir die alten Muster ja auch für später aufheben könnte.
Ich bin hier in Portugal. Ich kann jederzeit eine andere sein. So wie Karfiol auch Pizza sein kann.
Ich rief mir die Weisheiten meines mexikanischen Schwagers in Erinnerung, der mich vor Jahren mit nur 3 Sätzen von meiner Flugangst befreit hatte: „Du kannst noch immer Angst haben, wenn beide Triebwerke ausfallen. Aber warum denn schon vorher? Das macht doch gar keinen Sinn?“
Das klang so logisch, dass ich gar keine andere Wahl hatte als zumindest mit der Flugangst aufzuhören.
Ich beschloss, mir meine Pläne nicht wegen einem Stück Porzellan durchkreuzen zu lassen und auch auf dem Zahnarztstuhl keine Angst zu haben. Man könnte die Angst ja immer noch anwerfen, wenn die Ärztin so etwas sagen würde wie: „Um Himmels Willen, das sieht verdammt übel aus. Soll ich den Zahn gleich ziehen oder deckt Ihre Versicherung den Privatjet nach Hause ab?“. Wenn die Emotionen Amok laufen, lohnt es sich, die Logik ins Spiel zu bringen.
Die Geschichte ging überraschend gut aus: Krone reinigen, Kleber drauf, fertig. Die Angst wäre also völlig umsonst gewesen.
Ich überlegte kurz, meine zukünftigen Arzttermine von nun an von vornherein nach Portugal zu verlagern, konzentrierte mich dann aber aufs Wesentliche:
Wer Zahnarzt kann, kann auch Friseur im fremden Land!
Denn vielleicht ist das ja genauso unkompliziert. Denn, wenn ich eines nicht leiden kann: künstlich in die länge gezogene Dienstleistungen, nur um den hohen Preis zu rechtfertigen.
Also machten meine portugiesischen Freunde am nächsten Tag einen Termin bei Rui. Ja, Rui, kein Scherz. Bei Rui wurde zu brasilianischen Hits getanzt, gelacht und wilde Beachwaves in Haare gedreht. Großes Kino inklusive Sprachkurs. Um 23 Euro.
Und weil mir das alles noch nicht genug war, fuhr ich mit meinen Lieblingsmenschen zum Lunch. Um das Portugal kennenzulernen, wie es an manchen Ecken zum Glück noch immer ist, bevor es hip geworden ist. Das Seelendorf hinter einer nichtssagenden Abzweigung würde ich alleine nie wieder finden. Und das unscheinbare Lokal hatte ganz sicher noch nie ein/e TouristIn von innen gesehen.
Maria (die bestimmt so und nicht anders hieß und bestimmt mit einem João verheiratet war), kam uns winkend in ihrer Kittelschürze entgegen. Die Stühle waren hart und an der Wand reihten sich dutzende Pokale aneinander. Im Fernsehen lief das portugiesische CNN. Statt einer Menükarte wurde nach und nach einfach das Essen an den Tisch gebracht. Wasser und Wein, Salat und Kartoffeln. Und dann der Fisch. Berge davon. Zwei riesige Platten mit jeweils locker 20 Fischen darauf. Macht 40 Fische für sechs Personen. Inês sah mir die Überforderung an und zerlegte für mich einen der Fische direkt auf meinen Teller. Danach war ich satt. Und auch irgendwie zufrieden, weil Glück manchmal so einfach ist.
Ich habe mein Meer-Zuhause nun wieder gegen mein Berg-Zuhause getauscht.
Bevor ich mich noch so richtig vom Sommer verabschieden konnte, kam der November. Ich hatte bisher wenig Zeit, um darüber nachzudenken.
Tja, auch das, was wir gerne länger haben wollen, geht vorbei.
Und das ist jetzt vorbei.
Ich bin vollkommen frei.
Ich erlaube mir, hemmungslos…
…verärgert zu sein, weil dieses Mantra doch nicht so universell einsetzbar ist, wie ich dachte.
Die schwebende Anmut scheint mir mit jedem Tag, der kürzer wird, etwas mehr zu entgleiten. Ich versuche es anzunehmen. Denn das macht es schon wieder anmutig.
Es ist, was es ist.
Und dann ertappe ich mich, so wie jetzt bei einem Glas Rotwein aus dem Alentejo, wie ich zum Leben sage: „Komm‘, lass uns doch mal nach Flügen schauen…“
xo Jeanette
...danke für diese anmutigen Zeilen die meinen morgendlichen Kaffee versüßt haben - ich freue mich auch schon riesig auf dein Buch! Nimmst du Vorbestellungen an? Und wann sehen wir uns wieder? Umarmung 😘 (Angelina)
Liebe Jeanette, So herrlich geschrieben, dass ich mich auch schon sehr auf dein Buch freue. Übrigens teile ich deine Angst vor Flug (ein bisschen) und Zahnarzt (schon mehr) und fahre jetzt nicht ganz so ohne Sorge zu meinem nächsten Retreat in zwei Wochen, denn ich habe auch eine einzige Krone ;-). Aber vorher freue ich mich schon riesig auf die Reise morgen mit dir in die Tiefe des Wasser Elements, das übrigens auch Thema meines Retreats sein wird.
Ganz herzliche Grüße, Britta