TRIBE-NOTES 09/23 – Hydra. Wo die Sehnsucht nach fast allem wohnt.
Alles, was ich über Hydra wusste: Dass es hier keine Autos gibt und Leonard Cohen dort gewohnt hat. Und dass sich mein Leben gerne so leicht anfühlen möchte, wie es der Name dieser Insel verspricht.
Ein Ort kann dich mitreißen und verzaubern. Es ist dieses unbeschreibliche Etwas, das sich besonders oder magisch anfühlt. Ein Ort, der deine Sinne vereinnahmt. Der dein kreatives Sein anstachelt. Ein Ort, dem du ausgeliefert bist. Vom allerersten Moment an, ohne es überhaupt zu bemerken. Oder anders gesagt: Er HYDRA-tisiert dich!
Das letzte Mal hat mich dieses Gefühl auf Alonnissos gepackt. Du kannst es sogar noch auf meinem Blog Follow Your Trolley nachlesen (beeile dich, denn ich werde es mit Ende des Jahres schließen, wie so viele andere Kapitel in meinem Leben). Meine Güte, ich werde wieder einmal wehmütig, wenn ich an diese Reise denke. 2016. Auf dem Blog sieht man die Fotos. Er läuft auf diesem Kiesstrand ins Meer. Ich habe eine Art Daumenkino daraus gemacht. Niemand außer uns war da, nur dieses glückselige Pärchen aus Bologna, das auf dieser menschenleeren Insel seinen zweiten oder dritten Frühling feierte und dem wir an jeder nur erdenklichen Ecke ständig begegneten.
Die Wellen waren wild, fast furchteinflößend, als er darin verschwand und nach einem angehaltenen Atemzug wieder auftauchte. Es war ein seltener Moment vollkommener Freiheit für ihn und des Vertrauens für mich. Es war einer dieser Augenblicke, die man so intensiv erlebt, dass man sie nie mehr vergisst.
Aber das alles ist Teil einer ganz anderen Geschichte, die ich schon bald in meinem Buch erzählen werde. Gleichsam gebeutelt und beglückt von den Ereignissen der vergangenen Jahre MUSS ich es schreiben, ob ich es will oder nicht. Damit das Leben endlich wieder leicht werden kann. Und warum nicht gleich damit anfangen. Auf einer Insel, deren Name so federleicht klingt wie HYDRA.
Eine giftige Seeschlange mit neun Köpfen? Kann sein. Aber lasse ich mir das ersehnte Summerfeeling von der griechischen Mythologie versauen? Bestimmt nicht!
Der Plan war der folgende: Einen völlig neuen Ort aufsuchen. Am Meer natürlich. Und irgendwo im Süden natürlich. Dort, wo frische Erinnerungen wie kleine Kücken aus ihrer Schale schlüpfen. Neugierig auf alles. Ohne die Last des Alten.
Man darf es auch ganz pragmatisch sehen: Meine traditionelle Geburtstagsreise sollte nicht zu kostspielig werden. Der Flug nach Athen war günstiger als der nach Sardinien oder Ibiza. So einfach war das. Und von Athen aus würde sich schon irgendein Inselchen finden. Wer ausgerechnet in der High Season mit Fernweh geboren wurde, braucht funktionierende Strategien.
Viele gute Gründe führten mich also nach HYDRA.
Einige davon kannte ich noch gar nicht als ich mich mit leichtem Handgepäck auf die Reise machte.Vor Jahren habe ich einen Bericht über diese Insel im Condé Nast Traveller gelesen. Von Athen nicht weit. Leonard Cohen lebte hier. Der Jet-Set der 60er-Jahre fand sich auch gerne ein. Hollywood hat hier einen Film mit Sophia Loren gedreht. Und vor allem: Bis heute gäbe es dort weit und breit kein Auto. Meine steinalte Blogger-Seele frohlockte und stellte sich sofort bildhübsche Gassen vor, frei von störenden Gefährten für perfekte Fotomotive. So wie damals in Perugia oder Spello. Antiquierte, blankpolierte Fiats 500 zählen nicht, denn die machen sich auf jeder Insta-Kachel gut.
Zurück zu Hydra: Nichts, wirklich nichts erinnert an das scheußliche Ungeheuer, das Herakles erlegen sollte. Ganz im Gegenteil: Es ist so friedlich, dass man den Haken an der Sache sucht. So viel steht fest: Ich habe ihn nicht gefunden.
Wer immer mich fragte, wo ich meinen Löwengeburtstag in diesem Jahr verbringen würde und mich hauchend das Wort Hydra (das die GriechInnen mehr wie “IDRA” aussprechen) sagen hörte, schwieg vor lauter Nicht-wissen-wo-das-überhaupt-sein-soll oder merkte an, vor mindestens 30 Jahren schon mal da gewesen zu sein und dann nie wieder. Warum eigentlich nicht? Darauf hatte niemand eine Antwort.
Hydra ist nicht All-Inclusive-Rhodos. Nicht You-Can-Have-It-All-Kreta. Und auch nicht Happy-Hour-Mykonos.
Deshalb gerät das Inselchen leicht aus dem Blick. In den Jahrzehnten scheint sich die Langeweile in ihrer schönsten Form hier niedergelassen zu haben. Ich mag es, wenn das Gute keinen Grund hat, sich zu verändern.
Also gut, im August fahren schon mal die luxuriösen Segeljachten in den Hafen ein und die Boutiquen an der Promenade lassen erahnen, dass der Jet-Set von heute hier mit dem Wunsch anlegt, ein bisschen Geld für schöne Dinge auszugeben. Aber im Grunde ist Hydra wohl noch immer die bezaubernde Insel, die sie einmal war. Das bisschen Chi-Chi ist für mich durchaus aushaltbar.
Als wir ankamen – mit dem hydra-leichten Handgepäck über die eigenen Schultern geworfen, um die am Hafen bereitstehenden Maultiere (eine tiefenentspannte Kreuzung aus Pferd und Esel) zu entlasten – verliefen wir uns in der Mittagshitze in den engen Gassen. Und weil die Bilderbuchkulisse zum Verlieben schön war, vergaßen wir, uns darüber zu beschweren, dass die Straßen nur mit etwas Glück einen Namen, aber die Häuser keine Nummern haben und Google Maps keine besonders große Hilfe war.
Irgendwann haben wir das Bed without Breakfast gefunden. Simplicity wird hier wörtlich genommen. Nicht, dass Dimitris unfreundlich gewesen wäre, aber den charmanten Willkommensgruß auf Booking.com muss ihm dann wohl doch irgendeine KI auf den Leib geschrieben haben. Man muss Prioritäten setzen. Und Dimitris’ Priorität war es ganz klar, eher eine Zigarette zu rauchen als Wasser in die staubtrockenen Blumentöpfe zu gießen. H2O ist ein knappes Gut. Selbst auf einer Insel, die auf den erfrischenden Namen Hydra hört.
Wir wussten dennoch sofort, dass wir wiederkommen würden. Auf die Insel, nicht in unsere Pension. In den Labyrinth-artigen Gassen, verworrener als in Mykonos, kamen wir immer wieder an diesen Apartments mit C. vorbei, die schon von außen ihren betörenden Charme verströmten. Bestimmt teurer, aber bestimmt auch schöner. Auch diese steinalte Apotheke lag irgendwie ständig auf dem Weg. Und ich finde, man sollte sie von innen gesehen haben. Auch wenn man nur eine Sonnencreme von Korres oder gar nichts kauft.
Fehlte eigentlich nur noch, dass Bill Murray mit Sonnenbrille und Panama-Hut um die Ecke biegt. Täglich grüßt das Maultier.
Abends kann es sein, dass die Ohren in einer solchen Gasse meinen, im Paradies gelandet zu sein. Von Hand gespielte Klaviermusik, die sich ihren Weg zwischen offenen Fensterläden in zartem Taubenblau nach draußen bahnt. Und Zikaden, die in einem opulenten Privatgarten gleich gegenüber in das Konzert einstimmen.
Kein Motor, der knattert und niemand der hupt.
Ich habe nur ein einziges Fahrzeug auf der Insel gesichtet: den Müllwagen. Sonst wäre die Stille vielleicht auch gar nicht verkraftbar.
Alle anderen Transportmittel erinnern an Marrakesch. Vor allem am Morgen, wenn die Fähre anlegt, um die Dinge des täglichen Lebens zu bringen. Ein friedliches Chaos. Berge an Zitronen, Wasserflaschen und Klopapier, die man auf großen Schubkarren und mit einer fast wortlosen Logistik in die entsprechenden Gassen verfrachtet. Die Mulis übernehmen bereitwillig den Rest. Herumgehen ist immerhin noch spannender als herumzustehen, hört man sie laut denken.
Man könnte das Schauspiel ganz nebenbei beobachten, während man bei Tassos zum morgendlichen Kaffee ein griechisches Joghurt mit Honig und Früchten isst. Und sich freut, dass sich Yannis freut, weil man wiederkommt. Yannis’ Familie hat übrigens ein Restaurant in Wien. Es heißt Odysseus. Ich mache gerne Werbung für Yannis.
Man wird nicht lange bleiben, es erwartet auch niemand, weil das Meer ruft.
Und gerade am Morgen und am Abend muss man gar nicht weit laufen. Einfach an den Boutiquen an der Promenade entlang, dem kopfsteingepflasterten Weg nach links folgen und dann über die Felsen hinunter zum Meer. Entweder man springt, wie so viele, direkt vom Felsen ins Wasser – so ziemlich der größte Kick, den man sich auf der Insel holen kann – oder geht bequem über die an den Betonplattformen befestigten Leitern hinein.
Wenn die Sonne den Tag beschließt, könnte man meinen, die Sunset-Vibes der Buddha-Bar auf Ibiza zu spüren. Nur ohne Bar. Und ohne Musik. Die Leute sitzen auf den Felsen. Sie sitzen einfach da und schauen so lange auf das Farbenspiel über dem Meer, bis es dunkel wird. Der Fokus auf das Wesentliche braucht weder Hippie-Klamotten noch passende Beats.
Was, keine Sandstrände? Genau das ist der Punkt: Auf Hydra gibt es keine.
Doch das hat durchaus seine Vorteile. Denn es macht die Fangemeinde kleiner. Keine Familien mit trotzigen Kindern. Keine Partypeople. Schon gar nicht nach Mitternacht. Bleiben also nur Menschen wie du und ich übrig. Die Künstlernaturen. Die, die Sehnsucht haben. Nach etwas, das sich nicht greifen lässt. Und doch tief im Herzen wohnt.
Die, die das Einfache und zugleich das Besondere lieben. Und die, die lernen wollen, mehr sie selbst zu sein, ohne sich ständig im Tun zu verfangen. Den Blick dabei stundenlang zum Horizont gerichtet, den das felsige Festland kunstvoll unterbricht.
It’s Hydra-Time hörte ich mich sagen, wann ich immer ich mich fragte, wie späte es wohl sei.
So wie damals auf Fidji. It’s Fidji-Time, wenn man am anderen Ende der Welt nicht mal Silvester pünktlich feiert.
Da fällt mir ein: Es gibt sie ja doch, die Partystimmung! Manchmal in dieser einen Gasse ohne Namen, wo man auf bunten Kissen sitzt und Cocktails trinkt. Aber überraschenderweise auch dann, wenn man mit dem absolut unverdächtigen Wassertaxi, mit dem man morgens zum nächstbesten Strand kam, wieder in den Hafen zurückfährt. Es sind diese spontanen, ungekünstelten Momente die den größten Unterhaltungswert haben: Wenn ausgelassene Mädchen DJ spielen und der Grieche am Steuer mit dem verschmitzten Lächeln eines routinierten Busfahrers den Gashebel etwas mehr nach vorne drückt. Wenn Fremde zu griechischen Liedern singen, deren Bedeutung sie nicht einmal erahnen, und dabei zu Freunden werden. Wie eine wilde Horde bretterten wir also täglich mit den fast gleichen Gesichtern an Board über die Wellen und ließen den Spaß unseres Lebens in Hafennähe allmählich ausklingen, als wäre nichts gewesen.
Nach gerade mal zwei Tagen konnte ich mir schon vorstellen, hier zu bleiben. Mindestens einen Sommer lang.
Weil es der perfekte Ort wäre, um mein Buch zu schreiben. Um die Intensität meiner Emotionen noch einmal auszuhalten, bevor sie zu Buchstaben werden. Weil es eine Insel für die Kunst ist. Zum Malen. Zum Schreiben. Und wer weiß, was sonst noch alles.
Ich lag am Strand – ein unprätentiöser Mix aus Kieselsteinen, Wiese und Sand – gerade nachdem ich in der Taverne gleich dahinter mit den anderen Köstliches gegessen und wir gemeinsam eine Flasche Rosé getrunken hatten. Eine persönliche Empfehlung des Chefs.
Ich spürte, wie mein Herz seine Flügeltüren öffnete. Erst vorsichtig und zaghaft, doch dann selbstsicher und bestimmt.
Und wie so oft irgendwo am Meer, wurde mein Hirn plötzlich von schöpferischen Gedanken überflutet. Sollte dir das nützlich sein, sie lauteten ungefähr so:
Ich darf mir erlauben, meinen Talenten zu folgen. Geschichten zu schreiben, die traurigen und die schönen.
Ich darf groß und weit denken. Auch dann, wenn es vorerst wenig Sinn ergibt und keine Rechnungen bezahlt.
Ich will mir die Zeit nehmen, jeden Tag aufs Neue herauszufinden, was mich glücklich macht – und es noch vor den To-Do’s ganz oben auf meine Liste schreiben.
Ich darf zu viel mehr Dingen JA sagen, großzügig sein und Vertrauen haben.
Ich will manchmal verrückt sein, statt immer nur vernünftig. Weil jede Facette meines Seins zwischendurch mal auf die Bühne will, um sich die kleine Seele aus dem Leib zu singen, egal, wer zuhört und wie schief es klingt.
Ich kann das schaffen, was vor mir liegt. Denn ich habe auch das geschafft, was hinter mir liegt.
Ich werde öfter meinem Herzen zuhören, es ist so viel weiser als mein Verstand.
Ich muss mir das Leben meiner Träume nicht erst verdienen oder darauf hinarbeiten. Alles, wonach ich mich sehne, ist schon längst hier!
Hydra ist mit einem Mal mein Lieblingsplatz geworden. Dabei hatte das niemand vor – weder ich, noch diese Insel.
Dass ich wiederkomme, war uns wohl beiden von Anfang an klar. Vielleicht komme ich dann allein und schreibe die Alonnissos-Geschichte endlich nieder. Ich könnte abends auf die Wellen starren, die wie hingemalt vor mir liegen. Die Sehnsucht würde einfach ohne mich abreisen. Ich würde ihr Lebewohl winken und alles in mir würde federleicht werden. Ganz sicher sogar.
xo Jeanette
IN DIE TIEFE
Inspirationen
Boy on a Dolphin – Film mit Sophia Loren (1957) – in voller Länge auf YouTube:
Der Party-Song während der Fahrt mit dem Wassertaxi:
Liebe Kristin! Danke für deine Zeilen...und deine Mühe den ---tada--- 1. Kommentar auf dieser neuen Plattform zu schreiben! :) Es ist unendlich wertvoll für mich, zu lesen, wo und auf welche Weise meine Geschichten wirken! Und wie schön, dass jedes Leben ein anderes ist und doch gemeinsame Inspirationen findet! Vielleicht finden wir ja hier Möglichkeiten für den direkten Austausch, damit Fragen auch Antworten finden. Ich muss hier erst selbst richtig ankommen. Aber mit den ersten AbonnentInnen fühlt es sich gleich heimeliger an!
Hello again, liebe Jeanette
Habe schon viel Gutes über Hydra gehört, und so wie du es beschreibst, stell ich es mir vor!
Deine schöpferischen Gedanken resonieren sehr mit mir, vor allem "ich darf gross und weit denken..."
Irgendwie glaube ich eine Sehnsucht und Wehmut zu spüren in deinem Text?! Auf jeden Fall sind deine Texte immer sehr gefühlvoll geschrieben! Danke für das Teilen deiner Gedanken und Erfahrungen! Herzliche Grüsse aus Zürich! Sandra